Meine Krankengeschichte

Ich habe eine beidseitige Hüftdysplasie.

An den Tag, an dem ich das erfuhr, kann ich mich gut erinnern: Frühjahr 2002, ich war 19 Jahre alt und im Begriff, mein Abitur zu machen. Bis vor ein paar Jahren war ich wegen meiner Knie bei einem Orthopäden in Behandlung gewesen. Diesmal allerdings war ich wegen Schmerzen in der Leiste zu ihm gegangen. Seit Monaten hatte mich ein Stechen vor allem in der vorderen Leistengegend gequält. Es fühlte sich oft an, als sei dort irgendetwas eingeklemmt.

Mein Orthopäde veranlasste eine Röntgenaufnahme von meiner Hüfte – nichts Böses ahnend, sonst wäre seine Reaktion auf das Röntgenbild wohl nicht so heftig ausgefallen. Die Schwester hatte es an den Röntgenbildbetrachter im Behandlungszimmer gehängt und sich mit den Worten „Der Doktor kommt gleich!“ verabschiedet. Ich saß auf der Patientenliege, starrte auf die Aufnahme meiner durchleuchteten Körpermitte. Zwei Hüftgelenke eben. Ich konnte nichts Besonderes erkennen.

2002: Diagnose „Beidseitige Hüftdysplasie“

Die folgenden Sekunden sehe ich bis heute so klar vor mir, als wären sie gestern erst gewesen: Die Tür fliegt auf, mein Arzt tritt schwungvoll hindurch. Kaum fällt sein Blick auf das Röntgenbild, frieren seine Bewegungen ein. Mit der einen Hand umfasst er noch immer die Türklinke, die andere legt er an seine Stirn. Er hat die Augen weit aufgerissen, Verwunderung steht ihm ins Gesicht geschrieben.

Hüftdysplasie. An diesem Tag hörte ich das Wort zum ersten Mal. Sicherlich hat mein Arzt mir dann ausführlich erklärt, was eine Hüftdysplasie überhaupt ist und welche Therapie jetzt infrage kommt. Vermutlich fielen auch schon die Begriffe „Umstellungsoperation“ und „Dreifache Beckenosteotomie“. Ich weiß nicht mehr, was ich an diesem Tag im Einzelnen über meine Krankheit erfuhr – wohl aber, dass mir am Ausgang des Ärztehauses die Tränen in die Augen schossen und ich den ganzen Heimweg über heulte.


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Es hatte alles sehr ernst, fast bedrohlich, geklungen. Nach seltenem Fall – zumindest hatte mein Orthopäde nicht viele Patient:innen mit dieser Hüftfehlbildung behandelt –, nach aufwändiger OP und nach schlimmen Konsequenzen, sollte ich die Diagnose zu lange ignorieren. Wohl oder übel würde ich bald wieder ins Krankenhaus und danach zur Physiotherapie müssen, monatelang an Krücken laufen, jeden Tag Thrombosespritzen bekommen und und und.

Zuvor war ich schon an den Knien operiert worden

Mit all diesen Dingen hatte ich Erfahrung, ich war nämlich schon an beiden Knien operiert worden. Mehrmals hatte sich Wasser in den Gelenken gesammelt, das punktiert werden musste. Irgendwann konnte ich sie nur noch unter heftigen Schmerzen oder gar nicht mehr beugen. Mittels Arthroskopien wurden die Knorpelschäden in meinen damals 15- bzw. 16-jährigen Kniegelenken behoben. Knorpelschäden in den Knien in so jungen Jahren? Später dachte ich mir, dass sie sicherlich von der Hüftdysplasie herrührten. (Inzwischen weiß ich, dass das nicht der Fall ist. Mit dem Spezialisten PD Dr. Daniel Dornacher habe ich ein Interview zum Thema „Hüftdysplasie und ihre Symptome bei Erwachsenen“ geführt. Er sagte mir, dass Kniebeschwerden in der Regel nicht auf die Fehlstellung zurückzuführen sind.)

Zuerst hatte ich Knieprobleme
Mit 15 war ich zum ersten Mal am Knie operiert worden. Mit Krücken, Physiotherapie, Thrombosevorsorge kannte ich mich deshalb schon aus, bevor ich die Diagnose Hüftdysplasie bekam (Symbolbild)

Erinnerungen an die Knie-OPs und ihre Folgen kamen auf. Schlimmer als die Schmerzen, die Krücken und die Spritzen war damals aber etwas anderes für mich gewesen: Dass ich Abschied vom Volleyball hatte nehmen müssen. Dreimal pro Woche war ich zum Training gegangen und hatte regelmäßig an Turnieren teilgenommen. Wegen der Operationen musste ich dem Sport viele Monate fernbleiben. Als ich dann wieder fit war, schien mir Volleyball keine geeignete Sportart mehr zu sein. Das machte mich traurig.

Nun wusste ich also, dass meine Hüftgelenke auf beiden Seiten fehlentwickelt waren. Was würde ich deshalb wohl noch für Einschränkungen hinnehmen müssen? Und wenn ich schnellstmöglich operiert würde – im Sommer nach den Abi-Prüfungen – wäre ich dann überhaupt bis Oktober wieder fit, um wie geplant mein Studium an der Uni Rostock zu beginnen?

Die erste Hüft-OP stellt sich als unsinnig heraus

Tatsächlich kam ich direkt nach meinem Abitur ins Krankenhaus. Meine rechte Hüfte sollte operiert werden. Rechts waren die Schmerzen seit jeher stärker und die Hüftdysplasie ausgeprägter als links. Was man bei dieser Operation in meiner Heimatstadt genau gemacht hat, weiß ich allerdings nicht genau. Jedenfalls nichts, was die Schmerzen gelindert oder irgendetwas an der Fehlstellung meiner Hüfte verändert hätte. „Wieso haben die das denn nicht gleich richtig gemacht?“, fragte mein Orthopäde irritiert, als ich mich hinterher wieder bei ihm vorstellte. Zum zweiten Mal erlebte ich diesen sonst immer so gefassten Arzt verwundert.

Eine 18 Zentimeter lange Narbe an meinem rechten Oberschenkel zeugt bis heute von dieser überflüssigen Operation, die mir den Sommer nach meinem Abitur vermieste. Mein Studium konnte ich im Herbst zwar beginnen – zu den ersten Seminaren und Vorlesungen ging ich aber noch an Krücken.

Mein Arzt hatte mir dazu geraten, die Umstellungsoperation – den einzigen Erfolg versprechenden Eingriff – so schnell wie möglich in die Wege zu leiten. „Je jünger Sie sind, desto besser“, hatte er gesagt. Doch ich wollte erst einmal nichts mehr von Operationen hören, wollte studieren, mein Leben als Anfang-20-Jährige in einer neuen Stadt genießen. Und das tat ich – auch wenn ich immer wieder mit Beschwerden zu kämpfen hatte. Ging ich abends aus und tanzte stundenlang, wachte ich am nächsten Morgen häufig mit einem brennenden Schmerz in der Leiste auf, der sich erst im Laufe des Tages legte und manchmal sogar erst nach mehreren Tagen ganz verschwand. Phasenweise fühlte sich etwas in der rechten Hüfte so verhakt und eingeklemmt an, dass ich Schwierigkeiten beim Laufen hatte. Manchmal schoss mir auch unvermittelt im Gehen ein heftiger Schmerz in die Leiste, der mich zwang, stehen zu bleiben und vorsichtig weiterzuhumpeln.

Hüftdysplasie Erfahrungen: Tanzen ging, aber später hatte ich Schmerzen
Mit 22 bei einem Konzert. Trotz beidseitiger Hüftdysplasie ging ich als Studentin oft tanzen. Am nächsten Tag kam häufig die Quittung in Form von Schmerzen in der Leiste

Die Schmerzen traten beim Gehen auf und nach stärkerer Belastung auch im Ruhezustand. Mit längerem Sitzen, wie es bei vielen Hüftdysplasie-Patient:innen der Fall ist, hatte ich allerdings keine Probleme. Ich litt auch nicht an Rückenschmerzen. Phasenweise war ich sogar fast schmerzfrei und zu keiner Zeit musste ich regelmäßig Schmerztabletten nehmen.

2005: Ich stelle mich in der Orthopädie in Dortmund vor

Dennoch war mir klar, dass ich eine Coxarthrose – Arthrose im Hüftgelenk – schon in jungen Jahre riskierte, wenn ich mich nicht damit auseinandersetze. Also tat ich, was ich schon vor der ersten OP hätte tun sollen: Ich belas mich und stieß im Internet auf eine Seite, auf der eine Betroffene ihre Geschichte erzählte. Sie erklärte den Ablauf einer Dreifachen Beckenosteotomie, jener umfangreichen Umstellungsoperation, die nach Meinung meines Arztes auch mir helfen könnte. (Die Webseite namens hueftdysplasie-tipps.de ist zu meiner Überraschung bis heute aufrufbar und bietet immer noch wertvolle Informationen rund um die Hüftdysplasie.)

Ich erfuhr dort, dass das Klinikum Dortmund, damals noch „Städtische Kliniken Dortmund“, diese Operation schwerpunktmäßig vornahm. In Dortmund war die „Dreifache Beckenosteotomie nach Tönnis“ (auch „Triple-Osteotomie“) Mitte der 70er Jahre auch entwickelt worden. Heute kommt dieses operative Verfahren an mehreren Kliniken in Deutschland zum Einsatz und auch damals war Dortmund nicht der einzige Standort. Bis heute ist das Klinikum Dortmund aber gemessen an der Zahl der Eingriffe (mehr als 200 pro Jahr) meines Wissens nach eine der führenden Einrichtungen in Deutschland. (Hinweis: Es gibt zudem mit der PAO (auch „Beckenosteotomie nach Ganz“) auch ein weiteres OP-Verfahren, das bei Hüftdysplasie zum Einsatz kommt und das ich in diesem Beitrag vorstelle.)

Noch dazu fand ich in einem Wikipedia-Artikel etwas zur Erfolgsquote der Dreifachen Beckenosteotomie nach Tönnis: Eine Studie aus dem Jahr 2002 mit 54 Betroffenen, die alle mit diesem OP-Verfahren behandelt worden waren, kam nach elf Jahren Nachuntersuchungsdauer zu dem Ergebnis, dass die Hüftgelenksarthrose bei mehr als 90 Prozent verhindert werden konnte. Fast 90 Prozent der Patient:innen gaben zudem an, nach der OP deutlich weniger Schmerzen zu haben und beweglicher zu sein.

Das gab mir Hoffnung. Im April 2005 nahm ich schließlich die 600 Kilometer von meinem Heimatort im Nordosten Deutschlands nach Dortmund auf mich, um mich dort in der Orthopädischen Ambulanz vorzustellen. Vor Ort fertigten die Ärzte ein neues Röntgenbild an und befürworteten eine Triple-Osteotomie meiner rechten Hüfte. Wenig später stand mein OP-Termin fest: 7. Februar 2006. Die Wartezeit gab mir ausreichend Gelegenheit, mich seelisch, moralisch und auch organisatorisch vorzubereiten: Nach einer Dreifachen Beckenosteotomie darf man sechs Wochen nicht sitzen. Man bekommt ein Pflegebett verordnet, für das man zu Hause Platz schaffen muss. Operierte laufen viele Wochen an Krücken (bei mir waren es je Seite etwa fünf Monate) und sind entsprechend lange krankgeschrieben. In den ersten Monaten ist man auf viel Hilfe angewiesen. Wer allein lebt, muss für diese Zeit eine Lösung finden. Patient:innen steht jedoch Unterstützung zu: Sie können eine Haushaltshilfe beantragen. Ich für meinen Teil konnte mich für ein Semester vom Studium beurlauben lassen und wieder bei meiner Mutter einziehen. Als meine Mutter wieder arbeiten musste, kam zwei Wochen lang eine Pflegekraft am Vormittag zu mir, half mir beim Anziehen und brachte mir Essen. Die häusliche Krankenpflege ist in vielen Fällen eine Alternative zur Haushaltshilfe, da sie neben der Grundpflege bei Bedarf auch Tätigkeiten im Haushalt mit einschließt.

Da man sechs Wochen lang nicht 90 Grad sitzen darf, wird man nach einer Triple-Osteotomie liegend aus dem Krankenhaus nach Hause gefahren. Meine Krankenkasse befürwortete den Eingriff im 600 Kilometer entfernten Dortmund und übernahm damals, 2006, auch anstandslos die Kosten für den liegenden Krankentransport. Das sollte ich später, als ich mich entschied, auch die andere Seite in Dortmund operieren zu lassen, allerdings anders erleben.

Damals mussten Patienten standardmäßig eine Eigenblutspende vor dem Eingriff abgeben. Wegen der großen Entfernung zu meinem Wohnort sah man in meinem Fall aber davon ab.

2006: Meine rechte Hüfte wird in Dortmund operiert

Fast vier Jahre nach meiner Diagnose wurde meine rechte Hüfte schließlich in Dortmund operiert. Ich bekam trotz meiner 23 Jahre ein Bett in der Kinderchirurgie zugewiesen. Meine Mitpatientinnen im Zimmer waren nicht viel jünger als ich, zwei von dreien hatten ebenfalls eine Hüftdysplasie. 14 Tage blieb ich damals im Krankenhaus auch das war bei der zweiten Seite später anders – da war ich nur zehn Tage in stationärer Behandlung.

Klinikum Dortmund Kinderchirurgie Beurhausstraße
Das Klinikum Dortmund in der Beurhausstraße. Bei meiner ersten Dreifachen Beckenosteotomie lag ich in der Kinderchirurgie (im Hintergrund)

Wie genau ich die Zeit in der Klinik erlebt habe, werde ich anderswo ausführlich berichten. An dieser Stelle nur so fiel: Die Dreifache Beckenosteotomie und der Heilungsprozess an meiner rechten Hüfte verliefen komplikationslos. Ich trug lediglich eine Beinlängendifferenz davon, gegen die ich eine Einlage bekam und die sich im Laufe der Zeit von allein ausglich.

Metallentnahme Schrauben nach Hüftdysplasie OP
Diese vier Schrauben steckten ein Jahr lang in meinem rechten Hüftgelenk

Das erste Jahr nach der OP war dennoch anstrengend. Ich hatte anfangs hin und wieder Kreislaufprobleme. Im operierten Hüftgelenk hat es noch etwa ein Jahr lang immer wieder gezwickt, was angesichts einer so starken Veränderung der Statik im Gelenk wohl nicht verwunderlich ist. Auch die Schmerzen in der Leiste verschwanden nicht sofort, allerdings waren sie seit der OP nie wieder derart stechend und ich hatte auch nie mehr das Gefühl, etwas sei eingeklemmt oder verhakt.

Ein Jahr nach der OP folgte die Metallentnahme – wieder ein Eingriff unter Vollnarkose, für den ich nach Dortmund fahren und einige Nächte im Krankenhaus bleiben musste. Verglichen mit allem, was ich bis dahin hinter mir hatte, erschien mir die Metallentnahme wie ein Klacks. Sie verlief ebenfalls komplikationslos.

Das Tütchen mit den vier imposanten Schrauben, die ein Jahr lang in meiner rechten Hüfte steckten, fiel mir in den Jahren danach immer mal wieder in die Hände. Lange ahnte ich nicht, dass ich so ein Tütchen noch einmal bekommen würde. Bis zur Triple-Osteotomie meines linken Hüftgelenks sollten fast zwölf Jahre vergehen …

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Beidseitige Hüftdysplasie Krankengeschichte pinit

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Fynn
27. Februar 2024 11:02

Hi! Ich bin 21Jahre alt und habe gestern erfahren, dass auch ich eine beidseitige Hüftdysplasie habe. Mir geht es zurzeit echt gar nicht gut und ich habe Angst, dass sich alles verändern wird. Ein paar Fragen die mir eingefallen sind würde ich dir gerne stellen. Bist du mittlerweile noch in der Lage, größere Reisen auf dich zu nehmen und diese gut durchzustehen? Ich reise nämlich eigentlich für mein Leben gerne und habe Angst, dass das nicht mehr geht. Wie oft und wie stark sind deine Schmerzen? Weißt du ob man die OP auch an beiden Seiten zur gleichen Zeit durchführen… Weiterlesen »

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